12 Monate in 12 Tagen – Tag 2: Bairnsdale – Ein Stück Italien in der Kirche

Von Heywood ging es wieder zurück nach Hause. Wir machten noch einen Halt in Torquay und hatten ein recht ansehnliches Mahl im RACV Resort. Es sah alles sehr vornehm aus. Unsere Tage in Heywood waren sonnig gewesen, nun regnete es.

Da, wie gesagt, New South Wales zum unerreichbaren Ausland erklärt wurde, hatte ich einige Buchungen zu widerrufen. Geplant hatten wir, auf dem Rückweg aus Sydney einen Stop in Bairnsdale einzulegen. Stattdessen sind wir nach einigen Tagen zu Hause direkt dorthin gefahren und blieben dort eine paar Tage.

Bairsdale liegt vielleicht etwa 3 Autostunden östlich von Melbourne in Gippsland. Gippsland, eine teilweise recht bergige Landschaft, ist grüner als der Westen Victorias um Heywood, in dem es doch recht staubig ist und vorallem Getreide gedeiht, so scheint mir. Gippsland ist hingegen die Heimat glücklicher Kühe. Oder so, dies ist ein persönlicher Eindruck, der sicher etwas genauerer Betrachtung bedarf.

Wir sind immer mal wieder nach Gippsland oder durch Gippsland gefahren, und ich erinnere mich auch an viel Wald und an größere Landstriche, die von Waldbränden heimgesucht wurden. Davon blieb Gippsland den Sommer 2020/2021 weitgehend verschont. La Nina, ein Wasser- und Strömungsphänomen im südlichen Pazifischen Ozean, welches ab und an auftritt, ließ diesen Sommer regnerischer und kühler als gewöhnlich sein.

Bairnsdale, an einem Fluß gelegen, der Mitchell River heißt, ist ein Ackerstädtchen. In den 1860ern profitierte es von Goldfunden in der Umgebung, seitdem vorallem von der Besiedlung, um Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Am Fluß hängen Kolonien von Fledermäusen in den Bäumen, und die Stadt ist durch den nicht mehr genutzten Wasserturm, ein in den 1930ern gebautes Gericht  im Tudor-Stil und eine katholische Kirche geprägt.

Ich war doch verblüfft, als ich diese betrat. Von außen wirkt die Marienkirche in ihrem romanischen Stil schon etwas italienisch. Sie wurde 1913 eingeweiht. Natürlich findet man weder hier noch anderswo in Australien mittelalterliche Kirchen, sie sind alle “neo”. Trotzdem sieht das Innere der Kirche doch beeindruckend aus.

Francesco Floreani, geboren im Jahre 1899 in Udine, nahe Venedig, hatte in Turin Malerei studiert. Er verließ 1928 Italien, Frau und kleine Tochter, um in Australien sei Glück zu versuchen. Zunächst konnte er in Melbourne sein Geld mit der Malerei verdienen, die Weltwirtschaftskrise, die auch um Australiemn keinen Bogen machte, zog ihm aber den Boden unter den Füßen weg. Er zog aufs Land und fand zeitweise Beschäftigung als Erbsenpflücker.

Eines Tages, im Jahre 1931, machte er sich auf den Weg zur Marienkirche und klopfte an die Tür des Pfarrers, um Arbeit bittend. Vater Cremin gab ihm zwei Statuen, deren Bemalung gelitten hatten. Floreani reparierte sie zu seiner Zufriedenheit.

Der Pfarrer war von seiner Arbeit angetan, und ließ ihn drei Jahre lang das Innere des  Gebetshauses bemalen. Maria ist der Erinnerung an seine Frau entsprungen, seine kleine Tochter, die erst als Teenager nach Australien kam, ist ebenfalls zu finden, wie der Maler selbst, dert Pfarrer und einige der Schulkinder der Stadt, die den Engeln ihr Gesicht leihen. Drei jahre lang malte er, auf recht provisorischen Gerüsten, mit gefüllten Fässern als Basis. Im Jahre 1937 wurde die Kirche erweitert, und Francesco Floreani hatte neue Arbeit.

Ich hatte das Vergnügen, mir diese Geschichte von einer Angestellten der Kirche erzählen zu lassen, die mich auf diese oder jene Gestalt an Wand und Decke hinwies. Dann strömte eine größere Gruppe Neugieriger hinein und ich trat wieder auf die Straße hinaus, ließ Italien hinter mir und war wieder unter der heißen Sonne Australiens.

12 Monate in 12 Tagen – Tag 1: Die Geschichte von Charles Montgomery Foster, einem Ureinwohner aus der Lake Condah Mission unweit von Heywood, und seiner Familie

Das Jahr 2021 neigt sich dem Ende entgegen. Zeit, um ein wenig in der eigenen Geschichte und der um uns herum zu graben.

Zu Silvester 2020/21 fuhr unsere Familie  nach Heywood, in den Westen Victorias. Unser Versuch, eine Studienfreundin und ihre Familie in Sydney zu besuchen und eine Reise dorthin durch verschiedene Orte in New South Wales, dem benachbarten Bundesstaat, anzutreten, war mal wieder am Virus gescheitert. Die Grenze zwischen den beiden Staaten, die wir oft, zumeist in der am Murray liegenden Doppelstadt Albury (in NSW) – Wodonga (Victoria), recht unzeremoniell überquert hatten, ist über die letzten zwei Jahre oft sowas wie die Grenze “ins Ausland” geworden. Seufz..

Die Urlaubsziele an der Küste sind zur Zeit im Sommer hoffnungslos ausgebucht, so daß wir uns umorientierten und nach Heywood fuhren. Ich hatte von dem Budj Bim Welterbe gehört, und hatte gehofft, daß uns lokale Ureinwohner mit einer Führung zum Verständnis desselben verhelfen. Leider kam es nicht dazu, da während der Feiertage am Ende des Jahres auch die Reiseführer im Weihnachtsurlaub waren.

Wie es der Zufall so will, las ich Wochen nach dem Urlaub eine Geschichte von Tony Wright in der Zeitung. Davon gleich ein wenig mehr. Tony Wright ist ein Journalist der Melbourner Tageszeitung The Age.

Der Budj Bim ist ein heute inaktiver Vulkan, der erst in jüngerer Vergangenhait, vor 30 bis 40 000 Jahren, entstand. Die Gurditjmara, in dieser Gegend heimische Aborigines, berichten in ihrer Schöpfungsgeschichte von dem Vulkanausbruch vor etwa 30 000 Jahren. Damit gehört diese Geschichte zu den ältesten erhalten mündlichen Überlieferungen in der Geschichte der Menschheit.

Mir ist bekannt, daß in der Gegend seit Jahrtausenden die Aborigines Aalnetze auslegen und Kanäle graben, um die Aale dort hinein gleiten zu lassen. Mit Sicherheit läßt sich diese Technik seit 6000 Jahren nachweisen. Weiterhin wurden auch mit Basalt gebauten Grundmauern von Hütten gefunden.

Die Besiedlung durch europäische Einwanderer begann hier 1841. Mehr als zwei Jahrzehnte später, 1867, wurde durch die anglikanische Kirche die Lake Condah Mission etabliert, in der die lokalen Ureinwohner der Gurditjmara zusamengetrieben wurden.

Als 1918 diese Mission geschlossen wurde, wurden mit der Ausnahme von vier älteren alle Aborigines in die Lake Tyers Mission in Gippsland verfrachtet, also auf die andere östliche Seite Victorias, hunderte Kilometer entfernt. Ein Teil des Landes wurde an aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrende Soldaten verteilt. Unter diesen Soldaten waren auch Aborignies, auch Gurditjmara. Diese aber waren von der Landverteilung ausgeschlossen. Land gab es nur für weiße Soldaten.

Diese Geschichte wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotzalledem, einige der Gurditjmara blieben bis zu den 1950ern  in der Gegend und nutzten die Kirche der Mission und schickten ihre Kinder auf die Schule dort, die bis 1948 existierte. Um dem ein Ende zu bereiten, wurde schließlich die Kirche zerstört und mit Ausnahme des Friedhofs, der Straße zur Mission und etwas Land mit den Überresten der Mission alles andere Gelände an Soldaten verteilt – wiederum mit Ausnahme der Aborigines, die im 2.Weltkrieg an der Seite weißer Australier gekämpft hatten.

Tony Wright war ein Schuljunge in den 50er Jahren, als er einen der Ureinwohner auf der Hauptstraße von Heywood bei einem wilden Tanz sah, angefeuert und/oder bespöttelt von den Einheimischen, die neugierig zusammen liefen und zuschauten. Tony schaute ihm in die Augen, und fand dort keinerlei Ausdruck von Humor. Erst viel später wurde ihm bewußt, was er dort gesehen hatte, ein Gesicht, welches eine Maske war, hinter der sich Verzweiflung verbarg.

Monty Foster war sein Name, und er gehörte zu den Ureinwohnern, die auf der Lake Condah Mission lebten. Er fing Aal und Hasen und verkaufte sie im Ort, reparierte Zäune und verdingte sich zu allerlei Gelegenheitsarbeit. Als junger Mann war er ein ausgezeichneter Läufer, bis er sich beim Holzhacken verletzte. Er war ein Boxer in den Zelten der lokalen Shows, mit denen sich die Leute von Heywood und Umgebung vergnügten.

Im Winter 1954 fuhr die Polizei zu seiner Familie hinaus. Sie fanden zwei seiner Töchter, Gloria, 13 Jahre alt, und Eunice, 9, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Sie suchten auch nach deren sechsjährigen Bruder Ronnie, den sie schließlich bei einer Tante fanden. Die Polizei nahm diese drei Kinder mit sich und veranlaßten einen Prozeß gegen Monty und seine Frau Lyall, sie der Vernachlässigung ihrer Kinder bezichtigend.

Lyall war in Hamilton, wo sie wegen einer Tuberkulose-Erkrankung behandelt wurde, Monty war in der Nähe von Port Fairy auf einer Farm arbeitend.

Im Gerichtssaal standen viele Verwandte der Fosters, Tanten, Onkel, manche in den Uniformen, mit denen sie in den beiden Weltkriegen für die Armee gedient hatten, und bezeugten, daß sie sich sehr wohl um die Kinder gekümmert hatten.

Es nützte nichts. Die Bürokratie hatte es sich in den Kopf gesetzt, der Lake Condah Mission ein Ende zu bereiten und die dort noch Ansässigen zu vertreiben. Die drei Kinder wurden nach Melbourne verschickt, zu einem “Empfangszentrum” in Royal Park, und die Schwestern von ihrem Bruder getrennt. Schließlich gelangten alle drei in ein Waisenhaus in Ballarat.

Die Verwandten versuchten Monty zu erreichen. Zu spät, das Gericht war schneller.

In den nächsten Jahren, immer, wenn Monty etwas Geld beisammen hatte, trampte er nach Ballarat und gab seinen Kindern kleine Geschenke. Seine Versuche, die Behörden davon zu überzeugen, seine Kinder wieder nach Hause zu nehmen, scheiterten. Seine Frau konnte die Stille ihres kinderlosen Hauses nicht ertragen und zog nach Melbourne.

Als der kleine Tony, der spätere Journalist, Monty auf der Straße von Heywood tanzen sah, war Monty ein Mann ohne Zukunft, beraubt um seine Kinder und die Familie. Tony Wright lernte seine Geschichte erst viel später.

Dazu beigetragen hat Eurice, Montys Tochter, die seine Geschichte mit ihren Kindern teilte, und 1997 mit den Verfassern des “Bring Them Back Home”-Reports, “Bring sie nach Hause”, der Bericht, der Australiern und der Welt die Geschichte der Gestohlenen Generation, der Vertreibung und Trennung der Familien der Aborigines, vor die Augen führte.

Montys Tanz war seinem geistigen Zusammenbruch geschuldet. Er endete in der Psychatrie des Prince-Henry-Krankenhauses an Melbournes St.Kilda Road. Er starb 53jährig im Januar 1959, unterernährt und mit Wunden durch längere Bettlägerigkeit, wie seine Verwandten später erfuhren. Bis zum Ende seines Lebens war er ein Objekt eines paternalistischen Staates, ohne Rechte eines Staatsbürgers.

Wohl war den Behörden bekannt, wie sie seine Frau erreichen konnten. Es machte sich aber keiner die Mühe, und er wurde allein in einem Armengrab zur Ruhe gesetzt.

Seine Kinder wurden nach und nach aus dem Waisenhaus entlassen, wenn sie das Alter von 15 Jahren erreichten. Eunice fand zurück zu ihrer Mutter. Sie heiratete Jimmy Wright, einen Aborigine aus Sydney und hatte schließlich vier Kinder, 14 Enkel und 20 Urenkel. Sie behütete ihre Kinder und war vor Behörden stets auf der Hut, selbst, wenn es darum ging, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ihrer eigenen Kindheit beraubt, arbeitete sie vom Alter von 40 Jahren für 12 Jahre in einer Kinderpflege in Thornsbury, einem Melbourner Stadtteil.

Jimmy und Eurice kauften ein Haus in Branxholme, unweit der Lake Condah Mission. Der Gedanke ihres Vaters in einem Armengrab ließ Eurice und ihrem Mann keine Ruhe, schließlich borgten sie sich Geld von der Bank. Charles Montgomery Foster, mit vollem Namen, wurde schließlich auf dem Friedhof der Mission begraben. Lyall, Montys Frau, starb Tage später. Sie teilten sich am Ende auch ihren Todestag, den 22.Januar – er 1959, sie 1992. “Meine Mutter wartete, bis mein Vater, ihr Mann, nach Hause in sein Land zurückkehrte”, pflegte Eunice zu sagen.

Eunice Ina Wright starb im März letzten Jahres, 2020. Die Totenfeier fand an der Kirche der Lake Condah Mission statt. Nur ein paar Steine der Grundmauern stehen noch. Die Behörden hatten beschlossen, die Räumung der Mission zu beschleunigen, und zerstörten die Kiche 1957 mit 13 Stangen Dynamit.

Kurz danach tanzte Monty seinen letzten Tanz.

Ein Ausflug zu den Goldfeldern

In Melbourne, genauer in Flemington, findet jedes Jahr am ersten Dienstag im November das Pferderennen statt, “the race that stops the nation”, das Rennen, währenddessen die Nation den Atem anhält, wie es so schon heißt: Der Melbourne Cup. Tatsächlich berichteten mir Leute aus Sydney, mit denen ich am Tag darauf sprach, daß sie um drei Uhr die Arbeit ruhen ließen, um das Rennen zu schauen.

Nun, wir haben das Rennen dieses Jahr ignoriert und sind hinaus zu den Goldfeldern gefahren, nach Ballarat und Umgebung. 1951 brach in Victoria wie in New South Wales das Goldfieber aus. Wohl hatte man schon vorher Gold gefunden, aber die Funde waren sporadisch, und die Regierenden hatten kein großes Interesse. Warum, kann man sich mit Governeur Charles La Trobe erklären, der sich nach dem Ausbruch beklagte, daß es keine Arbeiter mehr in Melbourne gäbe, da jeder alles stehen und liegen ließ, um sein Glück mit der Goldsuche zu suchen.

Auf der Hinfahrt verließen wir kurz vor Ballarat die Schnellstraße und fuhren nach Creswick. Den vergangene Reichtum der Stadt läßt sich an den viktorianischen Gebäuden links und rechts der Hauptstraße ablesen, an Hotels,  Postamt und Banken. Creswick ist auch der Geburtsort der Künstlergeschwister der Lindsay-Familie, unter ihnen Norman Lindsay, Schriftsteller, Karrikaturenzeichner, Maler und Bildhauer.

Er verewigte seine Geburtsstadt in dem Roman “Redheap”, in dem er sich über die wohlgesitteten Bürger seiner Heimatstadt lustig machte. Das Werk war den Einheimischen gar nicht recht und landete erst einmal 30 Jahre auf der Liste der Zensoren.

Wir hatten einen schönen Frühlingstag erwischt und beendeten diesen Ausflug mit einem Spaziergang um den St.Georges Lake, einen künstlich angelegten See, um die Wasserersorgung der Stadt und der Goldmühle zu sichern. Das passierte um 1895. Die Stadt hatte damals 25 000 Einwohner heute sind es etwas mehr als 3000.

Es war ein schöner Spaziergang und erinnerte mich etwas an Ausflüge an Seen in meiner alten Heimat, in Mecklenburg.

In Ballarat konnten wir unter anderem sehen, was der Sturm, der am Freitag davor durch unsere Weltgegend gefegt war, an Schaden angerichtet hatte. Der Botanische Garten war geschlossen, wir konnten umgestürzte Bäume sehen. Diese Frühlingsstürme sind nichts Ungewöhnliches, ich glaube aber, dieser Sturm war etwas heftiger als gewöhnlich.

Auf der Rückfahrt schauten wir uns Clunes an, wo 1851 in Victoria der Goldrausch began. Wir plauschten mit den im Sonntagsstaat sitzenden Rentnern, die gemeinsam das Pferederennen im Fernseher anschauten und darauf wetteten. Ich fotografierte das Denkmal für die im 1.Weltkrieg Gefallenen, ein einsamer Soldat, Gewehr bei Fuß, stellvertretend für all diese Denkmäler, die es praktisch in jedem australischen Orte findet. Die meisten sind sehr ernste Angelegenheiten, nicht von Heldentum, sondern von Trauer geprägt. Der Weltkrieg kostete vielen vielen jungen Australiern das Leben.

Kosmische Botschaften

Vor ein paar Jahren habe ich meinem Sohn ein Buch geschenkt. Science Fiction, die mir eher zufällig über den Weg gelaufen ist. Wie das so manchmal ist, hat dieses Buch den Beschenkten nicht besonders beeindruckt. Aber, da das Geschenk im Hause blieb, konnte ich es selbst lesen und wurde so ein Fan von Becky Chambers.

“the long way to a small angry planet”, zu deutsch  “Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten”, ist das erste von bisher vier Büchern der Wayfarers Series. Diese Bücher kann man sicher auch alleinstehend lesen, auch wenn sich einige Personen und Themen überschneiden. Ich würde empfehlen, sie zusammen und in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen. Ich selbst habe bisher die ersten drei verschlungen, das vierte Buch erschien erst kürzlich. Dank Lockdown bin ich seit ein paar Monaten nicht in einem Buchladen gewesen, und habe es auch noch nicht geschafft, es online zu bestellen. Wahrscheinlich werde ich es mir in zwei Wochen kaufen, wenn ich mich dann wieder in Person in einer Buchhandlung umschauen kann.

Was mir an den Büchern von Becky Chambers gefällt, ist der positive Ton. Ich bin mit Utopien aufgewachsen, wenn ich mich recht erinnere, hieß die ganze Kategorie damals auch “utopische Literatur”. In den letzten Jahren sind mir zu viele Dystopien über den Weg gelaufen. Zumeist scheint Zukunft heute etwas zu sein, wovor wir uns eher fürchten.

Wobei die Bücher von Becky Chambers nicht “Friede Freude Eierkuchen”-Gechichten sind. Sie werden aber bevölkert von Wesen, Menschen und Weggefährten anderer Zivilisationen, die zumeist  mehr in Aufbau und Erkundung denn an Zerstörung interessiert sind.

Im dritten Buch, record of a spaceborn few, war ich denn doch platt, weil – jenseits der kosmischen Umgebung, kam mir der Gesellschaftsentwurf sehr vertraut vor. Die Rede ist von der Exodus Fleet, die die Erde verließ, als diese unbewohnbar wurde. Sie nahm mit sich mit all das, was den Bewohnern als wiederverwertbar erschien, und trieb durchs Weltall auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Schließlich trafen sie auf andere Zivilisationen, und die Gesellschaft fand sich im Zwiespalt zwischen egalitärer Selbstgenügsamkeit und einer reicheren, aber auch profitorientierteren, egoistischeren Außenwelt.

Während der Pandemie fand ich ein weiteres schmales Bändchen von Becky Chambers, welches nicht zur Wayfarers-Serie gehört, “To be taught if fortunate”. Es endet mit der Botschaft von Kurt Waldheim, 1977 Generalsekretär der Vereinten Nationen, die auf der Goldenen Schallplatte, the Golden Record, verewigt wurde. Diese Schallplatte wurde mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 in den Weltraum geschossen, und treibt seit damals durchs All. Inzwischen hat sie die Umlaufbahn des inzwischen zum Zwergplaneten degradierten Pluto überquert und ist auf dem Wege hinaus aus unserem Sonnensystem.

Die Goldene Schallplatte enthält auf 90 Minuten, ermöglicht durch eine gegenüber einer gebräuchlichen Schallplatte halbierten Abspielgeschwindigkeit von 16 2/3 Umdrehungen per Minute, die Botschaften von Kurt Waldheim – im wunderbar östereichischem Englisch – und US-Präsident Jimmy Carter, Töne von Beethovens 5. Sinfonie und Chuck Berrys Johnny B.Good, sowie “Hallos” in vielerlei Sprachen, von Alt-Sumerisch bis hin zu einem Gruß in Chinesisch an potentielle intergalaktische Zuhörer: “Freunde im All, habt ihr schon gegessen? Kommt, besucht uns, wenn ihr etwas Zeit habt.”

Beckys Chambers Eltern sind eine Astrobiologin und ein Satellitentechniker, und so mag es nicht verwundern, daß ihre Bücher durch Zeit und Raum reisen.

Die Geschichte um die Goldene Schallplatte ist ebenfalls eine Liebesgeschichte. Anne Druyan und Carl Sagan, beide an der Schallplatte beteiligt, telefonierten am 1.Juni 1977 miteinander und beschlossen zu heiraten. Zwei Tage später wurden Annes Hirnströme, ihr EEG, aufgezeichnet. Diese sind auch auf der Schallplatte zu finden.

Letztes Jahr veröffentlichte das Melbourner DJ-Duo The Avalanches das Album “We Will Always Love You”. Die Geschichte der Goldenen Schallplatte, von Anne und Carl inspirierte diese Platte, und es finden sich Schnipsel von der Voyager-Botschaft auf diesem Album wieder, wie die Stimme von Kurt Waldheim und das “Hallo von den Kindern der Erde”.  Die Platte ist das Resultat tausender Samples und viel viel Arbeit von  Robbie Chater und Tony Di Blasi. In einem der Stücke finde ich Alan Parsons “Eye in the Sky” wieder, und es wird gesungen und gerapt, von Sampa The Great, Kurt Vile, Mick Jones (The Clash), Perry Farrell (Jane’s Addiction), um nur einige zu nennen.

Ich habe Ausschnitte von diesem Album bei PBS im Radio gehört, als ich, von meiner Tochter aus dem Krankenhaus kommend, im Dunkeln die Bucht entlang nach Hause fuhr. Es ist Musik, die mich in den letzten Monaten immer wieder begleitet hat. Es gibt darin so viel zu finden. Fantastisch!

“Wir treten aus unserem Sonnensystem in das Weltall und suchen nur Frieden und Freundschaft, um zu lehren, wenn man sich an uns wendet, und zu lernen, wenn es das Glück will. Wir wissen sehr wohl, daß unser Planet und all seine Bewohner nur ein kleiner Teil des unermeßlichen Weltraums sind, der uns umgibt, und wir unternehmen diesen Schritt in Demut und Hoffnung.“

April, April, der weiß nicht, was er will

Wir haben mal wieder eines dieser Frühlingswochenenden, an denen es regnet und die Sonne scheint, die Sonne scheint und es regnet. Manchmal alles zur gleichen Zeit und dann gibt es einen Regenbogen, wie an diesem Freitag, als ich im letzten Tageslicht nach Hause radelte. Es ist Oktober, und, da hier im Süden alles ein halbes Jahr später (oder früher?) passiert, ist unser Oktober der April der Nordhalbkugel.

Meine Garderobe lichtet sich zusehends. Nach zwei  Wintern im Lockdown sind so einige Kleidungsstücke ausgefranst, durchgescheuert, angerissen. Wenn sich dann die freie Welt des Einkaufs öffnet, gibt es auch anderes zu tun, wie zu verreisen oder Freunde treffen oder ins Konzert gehen oder.. Einkaufen findet bei mir relativ unregelmäßig statt und ist eher ein Zeichen von Langeweile als ein Bedürfnis. An Langeweile hat es in den letzten Monaten nicht gemangelt, an Einkaufsmöglichkeiten schon. Ich bin aber auch kein großer Freund des Online-Shoppens. So lichtet sich nun meine Garderobe.

In den nachsten Tagen werden wir Melbourner den Weltrekord an Tagen in Lockdown übernehmen. Der steht bei 245 Tagen und wird von Buenos Aires gehalten. Hochrechnungen ergeben, daß wir dadurch ca. 30 000 Menschenleben in Melbourne gerettet haben.

Es hat erstaunlicherweise letztes Jahr weniger Selbstmorde als üblich gegeben. Es wird vorallem auf erhöhte Sozialleistungen zurückgeführt. Leben mit “Newstart”, inzwischen “Jobseeker” genannt, ist ziemlich lausig und angesichts ständig steigender Mieten kein Zuckerschlecken. Viele, die darauf angewiesen waren, berichten, daß sie sich z.B. mal ein neues Paar Schuhe gekauft haben, was sie sich sonst nicht leisten konnten.

Im Moment ist in der Hinsicht so ziemlich alles beim Alten. Unsere Bundesregierung ist halt “konservativ”, wie es so schön heißt. Wobei ich das eher als “von gestern” übersetzen würde..

Ein wenig hat mich diese ganze Pandemie an 18 Monate Armee erinnert, die ich als junger Mann in der DDR ableisten mußte. Für die letzten Tage gab es ein Maßband von 150 cm Länge, an dem Tag für Tag ein Zentimeter abgeschnitten wurde. Ich kann mich an meine damalige Laune nicht mehr erinnern, aber am Ende stand ein “Endlich!” So geht es mir jetzt. Es wird geimpft, und geimpft, und wir durchbrechen alle paar Wochen neue “Schallmauern” und dürfen dann ein bißchen mehr. Hier in Melbourne rechnet man mit 70% Doppeldosen um den 26.Oktober, mit 80% um den 5.November, und dann soll es halt so halbwegs normal werden. Wir werden sehen.

Derzeit ist es uns erlaubt, 15 km von Zuhase zu “verreisen”, und meine Frau und ich haben dies zu einem Samstagmorgenausflug nach Elsternwick ausgenutzt. Der Name “Elster” stammt tatsächlich aus dem Deutschen. Der australische Farmer und Politiker Charles Ebden hat hier Mitte des 19.Jahrhuderts ein stattliches Anwesen errichtet und es “Elster” genannt, sowie eine seiner Farmen “Carlsruhe”. Geboren in Südafrika, am Kap der Guten Hoffnung, erhielt er seine Bildung in England und in Deutschland, in Karlsruhe.

Es war Samstag, Sabbat für die nicht unbeträchtliche Zahl orthodoxer Juden, die so in ihrem “Sonntagsstaat” zu sehen waren, schwarze Anzüge, schwarze Hüte, Kippas. Etwa ein Sechstel der Bevölkerung des Staddteils ist jüdisch, was man auch in den Geschäften und Gastsstätten an der Einkaufsstraße merkt. In Elsternwick und angrenzenden Stadtteilen, wie St.Kilda und Caulfield, haben viele Auswanderer aus Mittel- und Osteuropa, die vor den Nazis geflohen sind, ein neues Zuhause gefunden. Für mich ist es ein Paradies fürs Essen “wie Zuhause”, ob Gulasch, Brot oder Kuchen.

Am Straßenleben merkte man kaum, das wir noch im Lockdown sind, Autos stapelten sich hinter der Straßenbahn, die langsam durch die Glenhuntly Road zuckelte, Menschen flanierten vor den zweistöckigen Geschäftshäusern. Unten ist das Geschäft oder Cafe, darüber Lagerraum oder Büro, oder ab und an auch noch, wie wahrscheinlich zur Entstehungszeit, die Wohnung der Ladenbesitzer. Das ist aber inzwischen sehr selten geworden.

Wir haben in einem Imbiß Falafel, Hommus, Hühnerflügel, Falafeln und Salad mit Rotkohl gekauft. An der Wand hingen Karten vom Nahen Osten und Bilder von Jerusalem, wir warteten und ich blätterte in einem Fotobuch überToledo. Zum Essen durften wir nicht bleiben, so sind wir in eine Seitenstraße gewandert und haben uns auf den Kantstein gesetzt. Ganz wie in meiner Jugend in Budapest, wenn wir gerade genug hatten, um uns Essen im Supermarkt zu kaufen, aber nicht genug, um in eine Gaststätte zu gehen. Die Welt und die Gründe ändern sich, aber manches wiederholt sich doch.

Seit heute ist hier nun Sommerzeit, es bleibt eine Stunde länger hell. Die Zeitdifferenz zu Deutschland beträgt im Sommer 10 Stunden, im Winter nur acht. Das gilt für Melbourne und Sydney, die Bundesländer Victoria und New Sough Wales. Die Queensländer im Norden haben keine Sommerzeit, sind nun also eine Stunde von uns “entfernt”, Adelaide ist immer eine halbe Stunde zurück, und Westaustralien mit Perth gar zwei, im Sommer drei Stunden. Am Highway durch die Nullarbor Plains liegt Eucla, und dort, in the middle of nowhere, in der Mitte des großen Nichts, stellen sie die Uhren gegenüber Perth um 45 Minuten vor. Diese Zeitzone gibt es aber offiziell gar nicht.

Was sich aber heute nicht geändert hat, ist die Ausgangssperre. Um neun Uhr abends müssen wir zuhause sein, für noch ein paar Wochen. Seufz..

Das Ende der Saison

Gestern nachmittag, auf dem Nachhauseweg mit dem Rad, färbt sich der Himmel leicht bedrohlich graublau ein, und es riecht nach Schnee. Der fällt zwar nicht wirklich in Melbourne,  was das Ganze nicht besser macht. Eisiger Regen durchnäßt langsam meine Jacke.

Das Wetter wäre für die Western Bulldogs im diesjährigen Grand Final gut gewesen. Nur findet dieses auch dieses Jahr nicht in Melbourne statt. Das MCG steht leer neben dem Yarra, ich bin gerade einen Tag zuvor mit einem Bekannten daran vorbeigeradelt. da war nichts los. Das Ende der Footysaison findet in Perth statt, zwischen uns und dem Austragungsort liegt fast ein ganzer Kontinent, unter anderem der(die, das?) Nullarbor Plain, eine Wüste ohne Bäume, mit einem der längsten Straßenabschnitte der Welt ohne Kurve, 145km, 90 Miles Straight. Es klingt romantisch oder extrem langweilig, das ist sicher Ansichtssache. Ich bin diese Strecke noch nicht gefahren, auch nicht mit dem Indian Pacific, dem Zug. Im allgemeinen mag ich die australische Weite, sie ist mir bis jetzt selten langweilig geworden.

Schnee gibt es tasächlich immer noch in Australien, in Falls Creek noch fast einen halben Meter davon, ich habe heute nachgeguckt. Vor einem Monat wäre dort der Hoppet gewesen, und ich hätte mit anderen Helfern am Washbed Creek gestanden und warme Getränke an vorbeisausende ambitionierte Skiathleten oder and verschnaufende Freizeitskier ausgeteilt. Am Beginn der Schneesaison schrieb mich Sue vom veranstaltenden Birkebeiner Club an, ob ich wieder helfen wolle, und ich habe ihr mit einem vagen “ich weiß nicht so recht” geantwortet. Man mag sich in dieser Zeit nicht so recht festlegen, und so blieb es dabei. Im August wurde es klar, daß auch dieses Jahr, das zweite Mal in Folge, nichts aus dem Skimarathon wird. Sue saß in Sydney fest und konnte nicht nach Hause. Sie macht das beste daraus und amüsiert sich mit ihren Enkelkindern.

In Perth hingegen ist es warm, und die Stadt hat dieses Jahr die Möglichkeit, vor 60 000 Zuschauern das Footy-Endspiel auszutragen. Spannend war es, die Doggies waren auch zur Halbzeit in Führung, in der großen Pause sangen die Birds of Tokyo, eine bekannte australische Band, die hier zuhause ist, und bis zur Hälfte des dritten Viertels sah es für die ‘Dees”, die Melbourne Demons, gar nicht gut aus. Dann aber kamen sie in Fahrt, und am Ende waren sie nicht zu stoppen. Zur Freude von Bruce, der seit ganzes Erwachsenenleben auf eine Meisterschaft seines Klubs gewartet hat, seit 1964. Einen Wermuttropfen hat es trotzdem: seit Jahrzehnten ist er zahlendes Mitglied des MCC, des Melbourne Cricket Clubs, der das MCG begründet hat, und auf dem Alteingesessene ihre Neugeborenen auf die Wartelist setzen, damit sie als Erwachsene Mitglied werden können. Natürlich wäre er dieses Jahr gern im Stadion gewesen, wenn sein Klub endlich mal gewinnt.

Moreland: Die Bahn geht nach oben

Seit heute dürfen wir Melbourner uns aus unserer 5km-Umgebung herauswagen. Was meine Frau und ich auch getan haben. Ich habe sie auf eine Magical Mystery Tour geschickt, wr sind mit dem Fahrrad nach Norden geradelt, bis an die Grenze unserer 10km, die wir nun bereisen dürfen. Ansonsten sind der Melbournerin nun Picknicks erlaubt. Was ihr bei vielleicht 15 Grad, starkem Wind und gelegentlich Schauer ein müdes Lächeln entlockt. Das Picknick haben wir uns später auf. Heute haben wir uns mit einer kleinen Pause und einer Schachtel Keksen gegenüber der Bahnstation Royal Park, wo der Melbourner Zoo zuhause ist, begnügt.

Hinaus aus unserem Wohnviertel ging es durch die Docklands, ein in den letzten 20 Jahren entstandenen Neubauviertel mit vielen Hochhäusern. Von dort wollte ich den Moonee Ponds Creek, ein kleines Bächlein, unter den Stelzen, auf denen der Tullamarine Freeway, eine Mautstraße zum Flughafen, ruht, entlang radeln. An der Autobahnabfahrt zur Innenstadt, wie an anderen Straßen, die in die Stadt führen, stand polizei und kontrollierte. Die Bahn selbst war am morgen stillgelegt worden. Der Grund: eine Demo von “Freiheitskämpfern”, die mit den derzeitigen Beschränkungen, dem Impfen und dem Leben im allgemeinen und im besonderen nicht zufrieden sind. Ich sag nur: Freier Fall für freie Bürger.

Nicht das mir das Leben mit Lockdown 6.0 nicht auf den Wecker geht. Aber das ist eine andere Geschichte und soll heute nicht mein Thema sein. Nur so viel: Es hat auch mein geistiges Leben etwas lahmgelegt, Energie und Laune befinden sich nicht unbedingt auf höchstem Niveau.

Der Fahrradweg am Moonee Ponds Creek ist mir sehr vertraut, vier Jahre lang bin ich ihn entlang zur Arbeit nach Kensington geradelt. Heute habe ich aber Kensington wortwörtlich links liegen lassen.

Etwas weiter nördlich weitet sich das Grün, der bereits erwähnte Royal Park kommt in Sicht. Hier ist, wie gesagt, der Zoo zur Hause, der zur Zeit mit Sicherheit geschlossen ist, wie so manches. Nach der Pause setzen wir unseren Ausflug fort, nun im wesentlichen entlang der Bahn, die nach Upfield führt. Hier hat der Fahrradweg nicht viel Platz, oft ist es nur ein kleiner Pfad eingequetscht zwischen Stacheldrahtzaun der Bahnlinie und Lagerhäusern des Stadtviertels von Brunswick.

Plötzlich kommt ein großes Wandgemälde ins Blickfeld. Jacinda Ardern, mit ernstem Gesicht, eine Muslimin umarmend, gemalt an ein mehr als zwanzig Meter hohes Silo. Es erinnert an das Massaker von Christchurch im März 2019. 51 Menschen starben, als ein gewalttätiger haßerfüllter Australier in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch  eindrang und das Feuer eröffnete.

Für mich symbolisiert dieses Wandgemälde einen signifikanten Unterschied zwischen meiner derzeitigen Heimat und unseren Nachbarn jenseits des Tasman. Ich hätte keinen aus unserer Bundesregierung für fähig gehalten, eine echte menschliche Regung zum Ausdruck zu bringen. Der derzeitige Ministerpräsident hat unter anderem als Minister für Einwanderung die Verunmenschlichung dieses Landes vorangetrieben.  Das Wandgemälde ist für mich aber auch ein Ausdruck meiner Heimatstadt und seiner Kultur und Haltung.

Schließlich erreichen wir die Moreland Station, einen neuen Bahnhof. Das alte Backsteingebäude, wie seine Geschwister an der gleichen Linie aus viktorianischer Zeit, aus dem 19. Jahrhundert stammend, sitzt unterhalb der Bahn, die sich hier in die Lüfte erhebt. Die Landesregierung hat in den letzten Jahren bisher ca. 50 Schranken entbehrlich gemacht, an denen die Autos, Fahrräder und Menschen warten mußten, während der Zug durchfuhr.

Das Projekt stieß zunächst auf viel Ablehnung. Von Verschandelung des Stadtbildes war die Rede, von Ängsten, Anwohner könnten ihre Privatsphäre verlieren, wenn der Zug über ihre Hintergärten hinweg fuhr. Diese Stimmung, sicher auch von unseren rechtsgerichteten Revolverblättern und privaten Fernsehstationen geschürt, hat sich doch geändert. Unter den Gleisen sind Parks entstanden, Spielplätze, Skateparks, Basketballfelder und mehr, und Stadtteile, mehr als 100 Jahre durch die Bahntrassen getrennt, sind nun miteinander verbunden. 1911 wurden auf Drängen der Einwohner 270 Bäume neben dem Bahnhof gepflanzt, dieser Park wurde später Gandolfo Park genannt, nach dem ersten Bürgermeister von Coburg, 1968, gewählt, der nicht von den Britischen Inseln stammte. Es ist erfreulich, daß sich heute mehr Grün dazugesellt.

Die Inspiration für die Namen der Stadtteile, Brunswick – Braunschweig – und Coburg ist die Herkunft und Abstammung des englischen Königshauses. Es bedurfte des 1.Weltkrieges, daß sich dieses von seinem deutschen Namen, Haus Sachsen-Gotha und Coburg, verabschiedete und  sich seitdem Haus Windsor nennen, nach einem ihrer Schlösser. Wenn man Engländer ärgern möchte, dann erzähle man ihnen, daß sie von deutschen Einwanderern regiert werden.

Wir nehmen uns Zeit, die Umgebung des Bahnhofes zu erlaufen. Kleine cottages, weatherboard houses, weißgemalte Holzhäuser, und hundert Jahre alte Steinhäuschen, umsäumen die Seitensstraßen, es grünt und blüht der Frühling in den Vorgärten. Brunswick und Coburg waren keine Stadtteile der Reichen. Das fanden auch die Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, die Missionary Sisters of the Sacred Heart aus Hilstrup, Münster. 5 Missionsschwestern wurden 1928 nach Melbourne gesandt und gründeten hier ein Krankenhaus, welches 1939 an der Moreland Street seine Pforten öffnete.

Nach dem zweiten Weltkrieg, als Australien das Ziel einer Auswanderungswelle aus der Alten Welt, noch kriegszerstört und arm, wurde, siedelten viele Einwanderer aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei und anderswo in Brunswick und Coburg. Bis heute prägen sie diese  Stadtteile. In den letzten Jahrzehnten zogen hier viele junge Menschen und Familien hierher. Gaststätten, Kneipen mit Live Music, Bäckereien und Cafes sind an der Sydney Road, der vielbefahrenen Hauptstraße mit der Stradßenbahn in der Mitte, zu finden. Ich versuche in einer französisch angehauchten Bäckerei Brot zu bekommen. Das ist ausverkauft. Es gibt aber Croissants und kleine Gebäckstückchen und Törtchen, mit denen wir dann vorlieb nehmen. Wenn wir kein Brot haben, können wir zumindest Kuchen essen!

Talked too much, stayed too long

Mein erstes Konzert seit dem Erscheinen des Coronaviruses. Angekommen, Soundcheck gehört, alles gut. Noch mal an die Bar, was zum Knabbern holen. Ob der Künstler pünktlich ist? Aussies sind es ein der Regel. Das fiel mir positiv auf, als ich aus Deutschland hier ankam, gewohnt, daß Bands lange auf sich warten lassen. Oft war es dort neun oder gar zehn, wenn die Band auf der Bühne erschien, auch wenn sie um acht angekündigt waren. Wie vieles läßt sich das aus dem Umfeld erklären, denke ich. In Deutschland geht man in ein Rockkonzert, in Australien ging man oft in die Kneipe und hörte Musik. Die Kneipen haben leider vor ein paar Jahrzehnten ein besseres und profitableres Mittel gefunden, um Leute anzulocken – Spielautomaten – es gibt aber immer noch genügend Kneipen, die Musik spielen.

Oder: es gab. Im Moment leider nicht, und so müssen wir mit dem Livestream vorlieb nehmen, über den das Konzert aus Sydney zu mir nach Hause kommt. Wie gesagt, der Soundcheck war gut, der ungepufferte Bilderstrom erreicht mich leider eher als Slideshow, als es anfing. In Deutschland haben Ende des Jahres die Hälfte aller Haushalte Zugang zu 1GBit/sec, habe ich heute gelesen, hier kann man davon nur träumen. Schön, Politiker am Ruder zu haben, die sich als gute Wirtschaftsmanager verkaufen. Ich schweife ab. Der Ton ist kristallklar, und so nehme ich die Wackelbilder in Kauf statt meine Zeit mit Ritualen zur Besänftigung der Netzwerkgötter zu verbringen.

Für eine Stunde oder ein bißchen mehr begebe ich mich in die Welt von Tim Minchin, höre sein neues Album Apart Together. Es sind Songs über Leben zusammen, leben voneinander getrennt, das Leben von Musikern und anderen Menschen. Sicherlich, die Musik ist gut, erfahren mit Musical und Shows, weiß er, die Ideen, die Lieder umzusetzen, Trompeten und Geigen und Trommeln spielen auf und funkeln und glänzen.

Mich sprechen aber auch die Texte an, die er mit Einleitungen schmückt, die oft witzig sind, wie viele seiner Songs. Er würde aber nie eine Platte voller komödiantischer Songs machen, meint er. Das waere wie Sex ohne Kamera, also, was soll’s?

In dieser guten Stunde werde ich über kurze englische Sommer, die auf einen Donnerstagnachmittag fallen, hören, “Summer Romance”, über das Leben auf der modernen Landstrasse, die Gosse von Business Lounges am Flughafen, “Airport Piano”, die Verführungen auf dem Weg, wie es sich anfühlt, wenn man statt “Gehen wir zu mir?” “Ich geh jetzt nach Haus” sagt, die Nacht mit $25 aus der Minibar verbringt und morgens erleichtert allein aufwacht und sich schuldig fühlt, all die Pringels gegessen zu haben. Es sind Liebeslieder, manche schön und besinnlich, einige, die erahnen lassen, wie wütend er manchmal auf unsere Welt ist. So, wenn er von der Idylle eines Campingwagens singt, in der eng umschlungen ein altes Paar erfroren ist, da es die Stromrechnung nicht bezahlen konnte. Das ist die Story des Titelsongs, “Apart Together”.

Das alles kommt in den Liedern kurz, in seinen Ansagen etwas maendernd herüber. “Talked too much, stayed too long”, redet zu viel und bleibt zu lange, wie er in einem Lied besingt, und sich vorstellt, dass diese Zeilen auf seinem Grabstein stehen könnten.

Ich hoffe, er hat noch einiges zu sagen.

Frühes Jahr 2020

..welches hier halt mit dem Sommer anfängt, der auch Ferien und viele Urlaub heißt, und Ferien für die Kinder. Urlaub wollte ich mir für später im Jahr aufsparen, um Eltern, Familie und Freunde zu besuchen. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. So stehe ich hier zuhause und höre Garageland, eine Show von PBS.

PS Drive Live hatte sein letztes Hurra in der Easey Street, oder so nehmen wir an. Im November ist der Umzug geplant, und da, so sagte man mir, wird man leider keine Konzerte stattfinden lassen können. Wir werden sehen.

Draußen sitzen, stehen die Zuhörerinnen und Zuhörer, und hinter der Glasscheibe im Studio wird die Musik gemacht.

Musik gibt es auch im Freien, das MSO, Melbourner Sinfonieorchester spielt jedes Jahr drei Konzerte umsonst und draußen in der Sydney Myer Music Bowl. Familien, Paare und Freunde sitzen im Gras und picknicken, vorn gibt es Tschaikowski, Dvorak und mehr.

Sommer heißt seit ein paar Jahren auch Frauen-Footy, und dieses Jahr spielten das erste Mal die Frauen von St.Kilda in der ersten Liga mit. Die alten Stadien in den Suburbs kommen auch wieder ins Spiel. Ich war mit einem Freund zu den Heimspielen in Morabbin, und auch mal im princes Park, wo Carlton sein Zuhause hat. Spaß auf dem Feld und Spaß rundrum. Ursprünglich wollte ich auch mit meiner Tochter dorthin, aber erstens kommt es anders, und zweitens..

Mit meiner Familie bin ich an einem Wochenende nach Kensington gefahren, ein Stadtteil im Nordwesten unweit der Mitte. Ich arbeitete hier vier Jahre lang und mag den Mix aus Weatherboard-Holzhütten und Fabrikgebäuden. In einem Lagerhaus fand fuer zwei Wochenende die selbstorganisierte Ausstellung “Don’t Do Tomorrow” statt, um Graffitysprühen und andere moderne quirky Kunst herum. Manche war politisch, wie ein kritischer Kommentar zur Situation in China, manches nicht.

Ende Januar/Anfang Februar ist auch chinesisches Neujahr, welches sowohl in Familie als auch auf Arbeit gefeiert wird. Wichtig, ganz wichtig: Essen!

 

Frank Carter & The Rattlesnakes

Montagabend in Melbourne. Konzert am Montag ist schon etwas komisch, aber was soll’s. Einer dieser merkwürdigen Tage, die dieser Sommer bereithält. Zur Abwechslung regnet es heute. Nein, es schüttet. Hinaus in den Norden, der Bahnlinie Richtung (De)Preston, etwas weiter draußen, wie Courtney Barnett es besungen hat. Northcote wurde schon lange von den Hipstern erobert, die High Street hat Bars, Restaurants und Bandrooms dicht an dicht.

Thornbury ist vielleicht als Nächstes dran. Das Croxton sieht aber noch nicht so angesagt aus. Als wir, die Pfützen und Sturzbäche auf dem Weg vom Bahnhof vermeidend, das Lokal betreten, landen wir zunächst in einer dieser Spielhöllen, plüschig, bräunlich, warm, in denen zumeist ältere Frauen und Männer ihren Abend verspielen.

Der Bandroom ist quadratisch, praktisch, gut. Auf der Bühne zunächst A.Swayze & The Ghosts, eine junge Band von Tassie, aus Hobart. Andrew Swayze ist auf der Bühne offensichtlich schon zuhause, ein guter Einstand für den Abend.

Schließlich kommen Frank Carter und seine Rattlesnakes auf die Bühne. Das Publikum ist heute eher den jüngeren Jahrgängen zuzurechnen, Tatoos, Männer mit Haarknoten oder ohne. Der Moshpit wird zeitweise für Männer “gesperrt”, Frank Carter möchte, daß sich auch Frauen ungestört austoben können. Was sie dann auch tun, tanzend und crowdsurfing. Carter mischt sich ins Publikum, wird getragen, singt kopfüber, läuft zur Bar und besteigt die Theke. In den Texten wird kein Blatt vor den Mund genommen, er singt von seinen eigenen Dämonen, Wut und mehr. Viele kennen die britische Band, die hier downunder in den letzten zwei Hahren mehrfach tourte, gut, kennt ihre  Songs und die Texte von “Crowbar”, “I Hate You” und “Devil Inside Me” und singen sie mit.

Auf dem Rückweg kommn wir mit einer jungen Deutschen, hier für ein paar Monate, ins Gespräch, ein etwas älterer Urmelbourner, wie sich herausstellt, Zugführer, kommt hinzu. Es geht um Punk, alt und neu, und es geht ums Wetter. Selbst dem Alteingesessenen kommt es außergewöhnlich vor, das Auf und Ab von Tag zu Tag.

Mir hingegen kommt es fast vertraut vor, als ich durch Nieselregen im Dunkel über den matt spiegelnden Asphalt nach Hause radele. Immerhin sind es keine Minusgrade hier, und es schneit auch nicht. Den Hagelschauer erlebte ich am Sonntag, dem Tag zuvor, als ich am Strand entlang in das Unwetter fuhr.