In der Innenstadt

Nach dem Gärtnern heute bin ich in die Innenstadt geradelt, mich an eine Geschenkkarte in meinem Portemonnaie erinnernd. Ich nahm an, daß es sich um ein Geburtstagsgeschenk handelte, bei genauerem Hingucken stellte sich heraus, daß ich sie schon seit Weihnachten habe.

Normalerweise dauert es nicht so lange, bis ich so eine  Karte in Bücher umwandele. Im Moment bin ich immer noch ein wenig unter Pandemieschock, nehme ich an. Alles ist ein wenig weniger geworden, was ich sonst so gesellschaftlich und andererseits betrieben habe. Eine Art Winterpause hat mein Leben befallen, und danach dauert es ein bißchen, bis die Pflänzchen wieder sprießen.

Das Gleiche erhoffe ich mir von der politischen Landschaft. Die letztwöchige Abwahl der Regierung hatte schon etwas von Zeitenwende in sich. Es war ein lautes “Genug” gegen Inkompetenz und Gemeinheit. Wie weit das Ansinnen der Neuankömmlinge im Parlament, die sich Aktion gegen Klimawandel  auf die Fahnen geschrieben haben, in Taten umgesetzt wird, werden wir sehen. Australien hat nicht nur in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vergeudet.

Ich muß mich auch davon erstmal erholen. Australien hat eine beklemmende Rechtsdrehung genommen, Angst und Schrecken vor allem und jeden war das Rezept, mit dem hier ein Vierteljahrhundert fast ununterbrochen regiert wurde. Stop the unions! Stop the boats! Axe the tax!…

Zunächst setzte ich mich in eine Kneipe, um die Zeitung zu lesen. Am Samstag finde ich dort ein paar Seiten Buchbesprechungen, die mir vielleicht Anregungen geben könnten. Ich hatte vorher nur ein paar vage Ideen. Auch gehört das samstagliche Zeitungeslesen zu meiner Tradition, um ein wenig abzuschalten.

Auf der ersten Seite begann ein Artikel über Einwandererkinder aus dem Sudan, die inzwischen als junge Footyspieler in den unteren Ligen an die Türen der großen Klubs klopfen. Einige von ihnen haben es schon geschafft und spielen dort.

Es war nicht gerade überraschend, an diesem wintrigen Tag im Fernseher ein Footyspiel zu sehen, und am Nachbartisch zwei Demonfans mit Schals über das Spiel ihrer Mannschaft gegen meines zu reden, als auch einen bekannten ehemaligen Footyspieler von Geelong im Raum zu sehen. Die Fans tranken recht schnell recht viel, bevor sie mit der Straßenbahn zum Stadion fuhren. Ich glaube, es waren Vater und Sohn. Zum Abschied hieß es “Go Saints!” – “Go Demons!”

(Das war das Spiel der Saints gegen Melbourne Demons vor kurzem  im MCG, dem Melbourne Cricket Ground, ein Stadion, in das 100 000 Leute passen. Die Saints verloren gegen den Meister des letzten Jahres, der auch dieses Jahr Favorit und Tabellenführer ist.)

Die Mitre Tavern ist das älteste erhaltene Gebäude der Stadt. Erbaut in den frühen Vierzigern des 19.Jahrhunderts, ist es ein Haus, wie es auch in England stehen könnte. Das Dach ist schräg und steil, auch wenn es hier keinen Schnee gibt, der an den Schrägen herabgleiten müßte, und Fenster gibt es wenige.

In England liegt das unter anderem an der Window Tax, der Fenstersteuer, die unter William III. im Jahre 1696 eingeführt wurde. Eigentlich wollte er eine Einkommenssteuer. Es galt aber als schwerer Eingriff in die Privatsphäre, seine Einkünfte vor dem Staat offenzulegen zu müssen. So behalf sich der König damit, die Anzahl der Fenster der Häuser zählen zu lassen, da man daraus in etwa das Vermögen der Besitzer abschätzen könnte. Natürlich gab es auch damals Möglichkeiten, die Steuer zu umgehen und minimieren: das Zumauern von Fenstern und das Errichten von neuen Häusern mit so wenigen Fenstern wie möglich. Eine Einkommenssteuer gibt es in England erst seit 1842.

In der Mitre Tavern saßen unter anderem auch die Gründer einer Baumarktkette. Ursprünglich wollten sie sich die Mitre 2 nennen, aber Mitre 10 klang besser. Unter diesem Namen ist die Kette bis heute bekannt. “Mighty helpful – Mitre 10” hat jeder Australier mindestens tausend Mal im Fernsehen und im Radio gehört.

Auf dem Weg zum Buchladen kam ich an einer anderen Namensverrenkung vorbei. Als ich in Melbourne ankam, stand in der Innenstadt ein recht schönes Jugendstil imitierendes Einkaufsgebäude, Australia on Collins. Im Erdgeschoß des Hauses war ein Brunnen, an dem meine Tochter als Kleinkind öfter spielte, wenn wir dort essen gingen. Das Wasser im Brunnen fiel leider den Einschränkungen der Millenium Drought, der “Jahrtausend-Dürre”. die von 1997-2009 dauerte, zum Opfer, das Gebäude selbst einer Kaputtrenovierung vor ein paar Jahren.

https://www.adonline.id.au/buildings/australia-on-collins/ zeigt Fotos von vor, https://en.wikipedia.org/wiki/St._Collins_Lane nach der Renovierung.

Jetzt heißt es St.Collins Lane,”Sankt(?)-Collins-Gasse”. David Collins, ein Offizier, der mit der First Fleet, den ersten Gefangenenschiffen, nach Australien kam und später die zweite Strafkolonie von Van Diemens Land, heute Tasmanien, gründete, war ganz sicher kein Heiliger…