Auf dem Weg vom Einkauf nach Hause radelte ich eine dieser langen Straßen entlang, die es in Melbourne wohl tausende Male gibt. Oft sind die ein- und zweistöckigen Häuser hinter Bäumen “versteckt”, die unsere Straßen säumen. Das können einheimische Eukalypthen sein, Bäume aus der ‘Alten Welt”, wie .zb. Platanen, Ahorn oder Kastanien, oder farbenfroh blühende Zierbäume aus aller Welt, wie z.B. Jacarandas aus Lateinamerika oder Myrtle-Bäume.
Die geraden Straßen wurden oft vor langer Zeit angelegt. Seitdem die Stadt vom Auto beherrscht wird, ist der Wunsch gewachsen, Ruhe vor dem Haus zu haben und den Verkehr auf großen Schnellstraßen zu kanalisieren. Daher sind jahrzehntelang sehr viele gewundene Straßen entstanden, die, in der Neuzeit zusätzlich mit speed humps, Huckeln, an denen man abbremsen muß, versehen, den Durchgangsverkehr abhalten sollen.
Für den Fahrradfahrer sind solche Straßen natürlich schöner. Ich bevorzuge sie und ziehe sie den auf die Fahrbahn gemalten Fahrradwegen an Schnellstraßen vor. Diese sind ja manchmal eher potentielle Todesstreifen, auf denen man sein drittes Auge auf die an der Straße parkenden Autos wirft und versucht, frühmöglichst die Autohalter zu erspähen, bevor sie die Tür öffnen, in die man dann hineinradeln darf, schnell abbremsen und so über den Lenker “abzusteigen” oder einen Schwenk zu versuchen, der, wenn man das nicht vorausgeahnt hat, einen in die Fahrspur eines vorbeifahrenden Lasters geraten läßt.
In den alten quadratisch-praktischen Vororten gibt es oft zwischen den größeren Straßen noch die dunny lanes, “Klogassen”. Im Garten stand ja früher oft das Plumpsklo, und das mußte ab und an geleert werden. Zu diesem Zwecke hat der dunny man nachts den Zugang durch die Hintertür bekommen.
Dies sind die Gassen, mit denen ich die ersten Schuljahre meiner Kinder zur Schule geradelt bin, bis diese sich allein auf den Weg gemacht haben. Bis heute radele ich oft durch solche kleinen Straßen, die heute oft Garagenstraßen geworden sind.
Generell kann man sehr gut durch Melbourne radeln, durch solche Straßen oder aber an Flüssen und Bächen entlang, durch Parks und anderes. Melbourne ist nicht zu hügelig, obwohl man doch ab und an merkt, daß Mount Martha oder Mount Waverley doch etwas mit der Landschaft und Anstiegen (und rasantem Runterradeln) zu tun haben. Wer seine Wege zumeist mit dem Auto erledigt, hat wahrscheinlich weniger Landschaft denn Linien und Gitter im Kopf, wenn er an Melbourne denkt.
Ich denke übrigens, daß Laufen und Fahrradfahren als alltägliche Fortbewegung gut geeignet sind, um sich mit seine Umwelt und seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen. Der Autofahrer gleitet ja doch eher einer Insel auf vier Rädern durch die Gegend, und statt Mitmenschen zu begegnen, lassen sie sich vielleicht durchs Radio unterhalten, in dem oft sogenanntes Talkback Radio läuft, wo sich frustrierte Menschen über Gott und die Welt beschweren. (Ich mach das stattdessen hier;-) Wer das als “Volkes Stimme” wahrnimmt, wird ganz sicher ein Pessimist, was die Menschheit angeht, und davon überzeugt, daß die Anderen alle in Horden an der nächsten Straßenecke nur darauf warten, ihn des Autos zu berauben, seine Frau zu vergewaltigen und die Kinder zu ertränken.
Die Fahrradfahrer sind dabei so ziemlich die Schlimmsten. Mir fällt gerade eine Geschichte vom Anfang der Pandemie wieder ein. Zu Beginn der Pandemie wurden Masken drinnen und draußen Pflicht. Ausgenommen waren davon Sporttreibende, wie Läufer und Radler. Es gab einige praktische Witze, wie man z.B. einer Strafe entkommt: “Just do a runner”, was im Jargon bedeutet, daß man davonläuft, wörtlich aber, zum Läufer zu werden.
Mary aus Northcote veranlaßte diese Regelung zu folgendem Leserbrief:
“Vor kurzem hielt ich mit dem Auto an der Ampel an und drehte mein Fenster hinunter. Ein Radler stoppte neben mir, drehte seinen Kopf in meine Richtung und spuckte auf die Straße. Sein Gesicht war etwa 30 cm von meinem entfernt.”
Ich habe mir diese Situation so vorgestellt:
Mary fährt Auto und muß an der Ampel anhalten. Wahrscheinlich hat sie die Heizung auf Anschlag, Hitzeanwallungen oder aber einfach einen hochroten Kof nach einer Stunde Radiohören. Sonst macht man im Juli das Fenster nicht auf, es sind 10 Grad draußen.
Da kommt der Fahrradfahrer. Das Gesicht ist dreißig Zentimeter von ihrem entfernt. Mary wird wohl in einem Toorak-Traktor, einem stadttauglichen allradgetriebenen Hochsitzer, durch die Gegend fahren. Über andere Autos sehe ich als Radler hinweg.
Wie der Radler denn Mary erblickt, überkommt ihn der nicht zu unterdrückende Drang, auszuspucken. Gott sei Dank trifft die Spucke nicht Mary, sondern landet auf der Straße. Pfffh. Welche Erleichterung. Alles ist gutgegangen, und Mary kann nach Hause fahren, um über ihre near death experience, ihre Begegnung mit dem Tode, in der Tageszeitung zu berichten.
Zurück zu den weiten Blick mit viel viel Himmel. Den kann man in Melbourne wirklich sehr viel genießen. Ob im Alltag am Meer, am Albert Park Lake nahe meiner Arbeit, vom Büro zur Innenstadt, beim Bogenschießen oder am Wochenende, wie z.B. an Arthur Seat auf der Mornington Peninsula.
Vor Jahrzehnten, als es noch keine mehrstöckigen Wohnhäuser oder Bürotürme gab, haben Stadtarchiteckten oft öffentliche Gebäude, Denkmäler und Kirchen an Sichtachsen angelegt. Davon ist in der Zwischenzeit einiges verloren gegangen, wie z.B. der Blick auf die Katholische Kirche in Middle Park, die ich entlang der Richardson Street von vielleicht einem Kilometer Entfernung sehen konnte. Vor vielleicht zehn Jahren wurden in der Straßenmitte Bäume geplanzt, die jetzt diesen Anblick der Kirche verstecken.
Von der South Melbourne Town Hall, dem Rathaus von South Melbourne, kann man die Straße hinunter zum Shrine of Remembrance gucken, ein Mahnmal für gefallenene Soldaten. Heute sieht er etwas eingezwängt aus.
Zum Abschied für diese etwas weitschweifige Glosse ein Nachtbild: Einsamkeit am Abend. Ich habe etwa eine Viertelstunde an einem Vorort auf die Bahn in die Stadt gewartet, aber außer vier jungen Leuten, die aus mir unverständlichen Gründen aus einem mitgetragenen Lautsprecher Achtziger-Jahre-Musik spielten, war keine Menschenseele zu sehen.
Die Bahn war dann typisch spätstündlich spärlich besetzt. Im Kontrast zu beschwerenden Wortmeldungen habe ich an diesem Abend, wie oft, wenn ich mit Bus und Bahn unterwegs bin, festgestellt, daß die meisten Passagiere Masken tragen. Ich selbst habe mich inzwischen daran gewöhnt, beim Betreten geschlossener Räume diese anzulegen. Ich betrachte es als schützende Höflichkeit, so wie man die Hand vor den Mund hält, wenn man hustet. Wenn’s nicht nützt, schaden kann’s auch nicht. Und es soll Schlimmeres geben als Maskentragen.