Wenn man mit der Straßenbahn oder dem Fahrrad aus der Innenstadt Richtung Norden fährt (Autos sind in dem Abschnitt der Swanston Street in der Innenstadt nicht erlaubt), vom Fluß und der Flinders Street Station weg, erreicht man einen der sogenannten “Inner Suburbs”, Carlton. Auf der linken Seite ist ein kleiner Platz, der in den letzten nun bald zwei Jahren öfter Schauplatz zumeist kleinerer Kundgebungen war. Ab und an wird in die Richtung eines ziemlich quadratisch-praktisch aussehenden Gebäudes gewunken, und hinter getönten Scheiben kann man Lichter zurückwinken sehen.
Es “beherbergt” seit ca. zwei Jahren Flüchtlinge, und derzeit auch einen der besten Tennisspieler der Welt, Novak Djokovic.
Letzterer wurde, wie viele wissen werden, nach Landung in Melbourne von den Grenzbehörden in den Gewahrsam genommen, um mit dem nächsten Flugzeug zurückgeschickt zu werden. Grund ist seine fehlende Impfung gegen den Corona-Virus, ohne die man gewöhnlicherweise nicht nach Australien einreisen kann, er behauptet, eine gültige Ausnahmegenehmigung zu haben. Derzeit streiten sich Djokovic und seine Anwälte mit den australischen Behörden, um seine Abschiebung zu verhindern.
Im Jahre 2019 haben unabhängige Parlamentarier (die weder der regierenden rechtsgerichteten Koalition von Liberals und Nationals noch der “großen” Oppositionspartei, der sozialdemokratischen Labor Party angehören), eine gegen den Willen der Regierung verabschiedete Gesetzgebung angestoßen, die es möglich machte, Flüchtlinge, die für Jahre auf Nauru oder Manus Island festsaßen, nach Australien zu bringen, um sie hier behandeln zu lassen. Einige Monate später gelang es der Regierung, dieses Gesetz zu widerrufen.
Im Hotel leben derzeit mehr als 30 anerkannte Flüchtlinge, die nach dieser “Medevac”-Gesetzgebung nach Australien kamen. Zumeist aus dem Irak und Afghanistan stammend, könnn sie nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Die australische Bundesregierung verweigert ihnen aber auch die Einwanderung nach Australien. Sie leben seit neun Jahren eingesperrt, ohne zu wissen, was mit ihnen in der Zukunft passieren wird. Federführend in dieser “Nichtprozedur” waren und sind Scott Morrison, zunächst als Einwanderungsminister und nun als Ministerpräsident, und Peter Dutton, der, als er Verteidigungsminister wurde, sein Amt an Karen Andrews abgab, die heute für den Grenzschutz zuständig ist.
Vor dem Hotel versammeln sich regelmässig kleinere Gruppen, um gegen diese brutale Nichtbehandlung von Flüchtlingen zu protestieren. Um die Flüchtlinge mundtot und unsichtbar zu machen, wurden ihre Fenster zugeschraubt und die Scheiben getönt. Daher sieht man nur das Licht ihrer Mobiltelefone, wenn sie zurückwinken.
In den letzten Tagen bekamen diese Protestierenden Gesellschaft. So sah ich am Freitagabend vielleicht 50 Serben, Landsleute von Djokovic, für den sie sich einsetzen, die, teilweise in Trachten und mit Nationalfahnen ausgekleidet, vor dem Hotel sangen und tanzten.
Darunter waren zumindest einige, die auch mit Djokovic’ Widerstand gegen Impfungen sympathisieren. Die “Großmütter für Flüchtlinge”, die sich natürlich die Möglichkeit, auf das Schicksal der Flüchtlinge hinzuweisen, wenn Fernsehteams, wie z.B. das BBC-Frühstücksfernsehen, nicht entgehen lassen wollen, waren ihnen gar nicht recht. Einige Serben wollten sich mit diesen maskentragenden älteren Frauen anlegen. Diese blieben ruhig, und im Laufe des Abends haben einige Serben etwas über die Flüchtlinge hinzugelernt.
Am Ende sangen die Serben “Happy Birthday” für Mehdi, einen iranischen Flüchtling, der im Hotel seinen zweiten Geburtstag verlebte, wenn man das als Leben bezeichen kann. Er erreichte Australien als 15jähriger. Seine in Gefangenschaft verbrachten Geburtstage, bis jetzt: 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24.
Am Samstagmorgen war es vor dem Hotel ruhig, nur die Bundespolizei war da. Ob er sich um die Fluchtlinge kümmere, fragte ich einen der Polizisten. “Ja, das ist mein Job”, antwortete er. Es klang nicht enthusiastisch, ein wenig entschuldigend.
Am Nachmittag war eine andere kleinere Gruppe, vielleicht zwanzig, vor dem Hotel: Eureka-Flaggen schwenkende Impfgegner. Ich fragte einen etwa 20jährigen, ob er sich für die Freiheit für die Flüchtlinge einsetze. “Nein, ich bin für Novak [Djokovic] hier.”.
“Der ist Millionär, und kann sich sicher um sich selbst kümmern – vielleicht doch für die Flüchtlinge?”, fragte ich ihn.
“Nein, über die Flüchtlinge weiß ich nicht Bescheid”. “Bist Du Australier?” “Ja. Und wo kommt dein Akzent her?” “Aus Deutschland.” “Ach, da leben die Flüchtlinge doch alle in Ghettos jetzt.”
ich drückte meine Verwunderung aus, daß er über die Flüchtlinge in Deutschland so gut Bescheid weiß, aber nichts über die vor seiner Nase.
Inzwischen kamen zwei etwas ältere recht massive Männer hinzu. “Du kannst jetzt gehen.” Es klang drohend. “Freiheit” ist denn doch relativ. Das heißt noch lange nicht, daß man was sagen darf, was diese “Freiheitskämpfer” nicht mögen.