Wir haben mal wieder eines dieser Frühlingswochenenden, an denen es regnet und die Sonne scheint, die Sonne scheint und es regnet. Manchmal alles zur gleichen Zeit und dann gibt es einen Regenbogen, wie an diesem Freitag, als ich im letzten Tageslicht nach Hause radelte. Es ist Oktober, und, da hier im Süden alles ein halbes Jahr später (oder früher?) passiert, ist unser Oktober der April der Nordhalbkugel.
Meine Garderobe lichtet sich zusehends. Nach zwei Wintern im Lockdown sind so einige Kleidungsstücke ausgefranst, durchgescheuert, angerissen. Wenn sich dann die freie Welt des Einkaufs öffnet, gibt es auch anderes zu tun, wie zu verreisen oder Freunde treffen oder ins Konzert gehen oder.. Einkaufen findet bei mir relativ unregelmäßig statt und ist eher ein Zeichen von Langeweile als ein Bedürfnis. An Langeweile hat es in den letzten Monaten nicht gemangelt, an Einkaufsmöglichkeiten schon. Ich bin aber auch kein großer Freund des Online-Shoppens. So lichtet sich nun meine Garderobe.
In den nachsten Tagen werden wir Melbourner den Weltrekord an Tagen in Lockdown übernehmen. Der steht bei 245 Tagen und wird von Buenos Aires gehalten. Hochrechnungen ergeben, daß wir dadurch ca. 30 000 Menschenleben in Melbourne gerettet haben.
Es hat erstaunlicherweise letztes Jahr weniger Selbstmorde als üblich gegeben. Es wird vorallem auf erhöhte Sozialleistungen zurückgeführt. Leben mit “Newstart”, inzwischen “Jobseeker” genannt, ist ziemlich lausig und angesichts ständig steigender Mieten kein Zuckerschlecken. Viele, die darauf angewiesen waren, berichten, daß sie sich z.B. mal ein neues Paar Schuhe gekauft haben, was sie sich sonst nicht leisten konnten.
Im Moment ist in der Hinsicht so ziemlich alles beim Alten. Unsere Bundesregierung ist halt “konservativ”, wie es so schön heißt. Wobei ich das eher als “von gestern” übersetzen würde..
Ein wenig hat mich diese ganze Pandemie an 18 Monate Armee erinnert, die ich als junger Mann in der DDR ableisten mußte. Für die letzten Tage gab es ein Maßband von 150 cm Länge, an dem Tag für Tag ein Zentimeter abgeschnitten wurde. Ich kann mich an meine damalige Laune nicht mehr erinnern, aber am Ende stand ein “Endlich!” So geht es mir jetzt. Es wird geimpft, und geimpft, und wir durchbrechen alle paar Wochen neue “Schallmauern” und dürfen dann ein bißchen mehr. Hier in Melbourne rechnet man mit 70% Doppeldosen um den 26.Oktober, mit 80% um den 5.November, und dann soll es halt so halbwegs normal werden. Wir werden sehen.
Derzeit ist es uns erlaubt, 15 km von Zuhase zu “verreisen”, und meine Frau und ich haben dies zu einem Samstagmorgenausflug nach Elsternwick ausgenutzt. Der Name “Elster” stammt tatsächlich aus dem Deutschen. Der australische Farmer und Politiker Charles Ebden hat hier Mitte des 19.Jahrhuderts ein stattliches Anwesen errichtet und es “Elster” genannt, sowie eine seiner Farmen “Carlsruhe”. Geboren in Südafrika, am Kap der Guten Hoffnung, erhielt er seine Bildung in England und in Deutschland, in Karlsruhe.
Es war Samstag, Sabbat für die nicht unbeträchtliche Zahl orthodoxer Juden, die so in ihrem “Sonntagsstaat” zu sehen waren, schwarze Anzüge, schwarze Hüte, Kippas. Etwa ein Sechstel der Bevölkerung des Staddteils ist jüdisch, was man auch in den Geschäften und Gastsstätten an der Einkaufsstraße merkt. In Elsternwick und angrenzenden Stadtteilen, wie St.Kilda und Caulfield, haben viele Auswanderer aus Mittel- und Osteuropa, die vor den Nazis geflohen sind, ein neues Zuhause gefunden. Für mich ist es ein Paradies fürs Essen “wie Zuhause”, ob Gulasch, Brot oder Kuchen.
Am Straßenleben merkte man kaum, das wir noch im Lockdown sind, Autos stapelten sich hinter der Straßenbahn, die langsam durch die Glenhuntly Road zuckelte, Menschen flanierten vor den zweistöckigen Geschäftshäusern. Unten ist das Geschäft oder Cafe, darüber Lagerraum oder Büro, oder ab und an auch noch, wie wahrscheinlich zur Entstehungszeit, die Wohnung der Ladenbesitzer. Das ist aber inzwischen sehr selten geworden.
Wir haben in einem Imbiß Falafel, Hommus, Hühnerflügel, Falafeln und Salad mit Rotkohl gekauft. An der Wand hingen Karten vom Nahen Osten und Bilder von Jerusalem, wir warteten und ich blätterte in einem Fotobuch überToledo. Zum Essen durften wir nicht bleiben, so sind wir in eine Seitenstraße gewandert und haben uns auf den Kantstein gesetzt. Ganz wie in meiner Jugend in Budapest, wenn wir gerade genug hatten, um uns Essen im Supermarkt zu kaufen, aber nicht genug, um in eine Gaststätte zu gehen. Die Welt und die Gründe ändern sich, aber manches wiederholt sich doch.
Seit heute ist hier nun Sommerzeit, es bleibt eine Stunde länger hell. Die Zeitdifferenz zu Deutschland beträgt im Sommer 10 Stunden, im Winter nur acht. Das gilt für Melbourne und Sydney, die Bundesländer Victoria und New Sough Wales. Die Queensländer im Norden haben keine Sommerzeit, sind nun also eine Stunde von uns “entfernt”, Adelaide ist immer eine halbe Stunde zurück, und Westaustralien mit Perth gar zwei, im Sommer drei Stunden. Am Highway durch die Nullarbor Plains liegt Eucla, und dort, in the middle of nowhere, in der Mitte des großen Nichts, stellen sie die Uhren gegenüber Perth um 45 Minuten vor. Diese Zeitzone gibt es aber offiziell gar nicht.
Was sich aber heute nicht geändert hat, ist die Ausgangssperre. Um neun Uhr abends müssen wir zuhause sein, für noch ein paar Wochen. Seufz..