Seit heute dürfen wir Melbourner uns aus unserer 5km-Umgebung herauswagen. Was meine Frau und ich auch getan haben. Ich habe sie auf eine Magical Mystery Tour geschickt, wr sind mit dem Fahrrad nach Norden geradelt, bis an die Grenze unserer 10km, die wir nun bereisen dürfen. Ansonsten sind der Melbournerin nun Picknicks erlaubt. Was ihr bei vielleicht 15 Grad, starkem Wind und gelegentlich Schauer ein müdes Lächeln entlockt. Das Picknick haben wir uns später auf. Heute haben wir uns mit einer kleinen Pause und einer Schachtel Keksen gegenüber der Bahnstation Royal Park, wo der Melbourner Zoo zuhause ist, begnügt.
Hinaus aus unserem Wohnviertel ging es durch die Docklands, ein in den letzten 20 Jahren entstandenen Neubauviertel mit vielen Hochhäusern. Von dort wollte ich den Moonee Ponds Creek, ein kleines Bächlein, unter den Stelzen, auf denen der Tullamarine Freeway, eine Mautstraße zum Flughafen, ruht, entlang radeln. An der Autobahnabfahrt zur Innenstadt, wie an anderen Straßen, die in die Stadt führen, stand polizei und kontrollierte. Die Bahn selbst war am morgen stillgelegt worden. Der Grund: eine Demo von “Freiheitskämpfern”, die mit den derzeitigen Beschränkungen, dem Impfen und dem Leben im allgemeinen und im besonderen nicht zufrieden sind. Ich sag nur: Freier Fall für freie Bürger.
Nicht das mir das Leben mit Lockdown 6.0 nicht auf den Wecker geht. Aber das ist eine andere Geschichte und soll heute nicht mein Thema sein. Nur so viel: Es hat auch mein geistiges Leben etwas lahmgelegt, Energie und Laune befinden sich nicht unbedingt auf höchstem Niveau.
Der Fahrradweg am Moonee Ponds Creek ist mir sehr vertraut, vier Jahre lang bin ich ihn entlang zur Arbeit nach Kensington geradelt. Heute habe ich aber Kensington wortwörtlich links liegen lassen.
Etwas weiter nördlich weitet sich das Grün, der bereits erwähnte Royal Park kommt in Sicht. Hier ist, wie gesagt, der Zoo zur Hause, der zur Zeit mit Sicherheit geschlossen ist, wie so manches. Nach der Pause setzen wir unseren Ausflug fort, nun im wesentlichen entlang der Bahn, die nach Upfield führt. Hier hat der Fahrradweg nicht viel Platz, oft ist es nur ein kleiner Pfad eingequetscht zwischen Stacheldrahtzaun der Bahnlinie und Lagerhäusern des Stadtviertels von Brunswick.
Plötzlich kommt ein großes Wandgemälde ins Blickfeld. Jacinda Ardern, mit ernstem Gesicht, eine Muslimin umarmend, gemalt an ein mehr als zwanzig Meter hohes Silo. Es erinnert an das Massaker von Christchurch im März 2019. 51 Menschen starben, als ein gewalttätiger haßerfüllter Australier in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch eindrang und das Feuer eröffnete.
Für mich symbolisiert dieses Wandgemälde einen signifikanten Unterschied zwischen meiner derzeitigen Heimat und unseren Nachbarn jenseits des Tasman. Ich hätte keinen aus unserer Bundesregierung für fähig gehalten, eine echte menschliche Regung zum Ausdruck zu bringen. Der derzeitige Ministerpräsident hat unter anderem als Minister für Einwanderung die Verunmenschlichung dieses Landes vorangetrieben. Das Wandgemälde ist für mich aber auch ein Ausdruck meiner Heimatstadt und seiner Kultur und Haltung.
Schließlich erreichen wir die Moreland Station, einen neuen Bahnhof. Das alte Backsteingebäude, wie seine Geschwister an der gleichen Linie aus viktorianischer Zeit, aus dem 19. Jahrhundert stammend, sitzt unterhalb der Bahn, die sich hier in die Lüfte erhebt. Die Landesregierung hat in den letzten Jahren bisher ca. 50 Schranken entbehrlich gemacht, an denen die Autos, Fahrräder und Menschen warten mußten, während der Zug durchfuhr.
Das Projekt stieß zunächst auf viel Ablehnung. Von Verschandelung des Stadtbildes war die Rede, von Ängsten, Anwohner könnten ihre Privatsphäre verlieren, wenn der Zug über ihre Hintergärten hinweg fuhr. Diese Stimmung, sicher auch von unseren rechtsgerichteten Revolverblättern und privaten Fernsehstationen geschürt, hat sich doch geändert. Unter den Gleisen sind Parks entstanden, Spielplätze, Skateparks, Basketballfelder und mehr, und Stadtteile, mehr als 100 Jahre durch die Bahntrassen getrennt, sind nun miteinander verbunden. 1911 wurden auf Drängen der Einwohner 270 Bäume neben dem Bahnhof gepflanzt, dieser Park wurde später Gandolfo Park genannt, nach dem ersten Bürgermeister von Coburg, 1968, gewählt, der nicht von den Britischen Inseln stammte. Es ist erfreulich, daß sich heute mehr Grün dazugesellt.
Die Inspiration für die Namen der Stadtteile, Brunswick – Braunschweig – und Coburg ist die Herkunft und Abstammung des englischen Königshauses. Es bedurfte des 1.Weltkrieges, daß sich dieses von seinem deutschen Namen, Haus Sachsen-Gotha und Coburg, verabschiedete und sich seitdem Haus Windsor nennen, nach einem ihrer Schlösser. Wenn man Engländer ärgern möchte, dann erzähle man ihnen, daß sie von deutschen Einwanderern regiert werden.
Wir nehmen uns Zeit, die Umgebung des Bahnhofes zu erlaufen. Kleine cottages, weatherboard houses, weißgemalte Holzhäuser, und hundert Jahre alte Steinhäuschen, umsäumen die Seitensstraßen, es grünt und blüht der Frühling in den Vorgärten. Brunswick und Coburg waren keine Stadtteile der Reichen. Das fanden auch die Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, die Missionary Sisters of the Sacred Heart aus Hilstrup, Münster. 5 Missionsschwestern wurden 1928 nach Melbourne gesandt und gründeten hier ein Krankenhaus, welches 1939 an der Moreland Street seine Pforten öffnete.
Nach dem zweiten Weltkrieg, als Australien das Ziel einer Auswanderungswelle aus der Alten Welt, noch kriegszerstört und arm, wurde, siedelten viele Einwanderer aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei und anderswo in Brunswick und Coburg. Bis heute prägen sie diese Stadtteile. In den letzten Jahrzehnten zogen hier viele junge Menschen und Familien hierher. Gaststätten, Kneipen mit Live Music, Bäckereien und Cafes sind an der Sydney Road, der vielbefahrenen Hauptstraße mit der Stradßenbahn in der Mitte, zu finden. Ich versuche in einer französisch angehauchten Bäckerei Brot zu bekommen. Das ist ausverkauft. Es gibt aber Croissants und kleine Gebäckstückchen und Törtchen, mit denen wir dann vorlieb nehmen. Wenn wir kein Brot haben, können wir zumindest Kuchen essen!